Sonntag, 28. Juni 2020

Deshalb hat der Geist von jeher die Liebenden in die Wüste getrieben.



Uns Missionare ohne Schiff, die von der gleichen Liebe geplagt sind, treibt der gleiche Geist anderen Wüsten zu. (...) Gleich, sobald das Tor aufgeht, besteigen wir die U-Bahn. Dann sehen wir Gesichter, Stirnen, Augen, Münder. Münder Vereinzelter, unverhüllt: manche geizig, andere unrein, wieder andere böse, gierige Münder oder gesättigte mit allen Nahrungen dieser Welt, und wie wenige, wie wenige haben die Form des Evangeliums. (...) Abermals wenn wir, im Nebel, im Regen oder im Mondschein, Leute kreuzen, und sie reden hören von Koffern, von Speck, von Geld, von Beförderung, von Angst, von Zank; nie, fast nie von dem, was unsere Liebe ist. (...) Inmitten der Masse, Herz an Herz, zusammengedrängt zwischen so vielen Leibern, auf unserem Sitzbrett, wo drei Unbekannte uns Gesellschaft leisten, in der schwarzen Straße pulst unser Herz, wie wenn eine Faust sich um einen Vogel schließt.
Der Heilige Geist, der ganze Heilige Geist in unserem armen Herzen, die Liebe, so groß wie Gott, die in unserem Herzen schlägt wie ein Meer, das um jeden Preis sich befreien, sich dehnen, einströmen will in all diese undurchdringlichen Leute, diese ausweglosen Wesen hinein.
Alle Straßen sind begehbar, in jeder U-Bahn kann man sitzen, alle Treppen steigen, den Herrn überallhin tragen, (...)
Herr, gib wenigstens, daß die Kruste, die mich bedeckt, dir kein Hindernis sei. Geh durch.
Meine Augen, meine Hände, mein Mund sind dein.
Diese so traurige Frau mir gegenüber: hier ist mein Mund, damit du ihr lächelst.
Dieses vor Bleichheit fast graue Kind: hier meine Augen, damit du es anschaust.
Dieser so müde, so müde Mann: hier ist mein Leib, damit du ihm meinen Platz gibst und meine Stimme, damit du ihm leise sagst: „Setz dich.”
Dieser so dumme, eingebildete, harte Bursch, hier ist mein Herz, daß du ihn liebst, stärker, als er je geliebt wurde.” (M. Delbrêl, Wir Nachbarn der Kommunisten, Einsiedeln 1975, S 54 – 56)

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